„Ich verstecke meine Kette“Wie sich viele Jüdinnen und Juden derzeit in der Region fühlen

Lesezeit 5 Minuten
Im Ausschnitt eines T-Shirts steckt eine Brille, dahinter sieht man einen silbernen Davidstern an einer Kette.

Eine Kette mit Davidstern, wie diese vom Musiker Gil Ofarim, trauen sich viele Jüdinnen und Juden derzeit nicht öffentlich zu tragen.

Wenn sich die Reichspogromnacht am 9.11. zum 85. Mal jährt, steht das Gedenken für Jüdinnen und Juden in Deutschland unter besonderen Vorzeichen. Viele von ihnen haben derzeit Angst und Sorge um ihre Sicherheit.

„Es ist so wie immer“, sagt eine Frau aus der Bonner Synagogengemeinde: Viel habe sich nicht verändert. Wer darin ein gutes Zeichen sehen möchte, liegt jedoch falsch: Es sei, beschreibt sie, einfach so, dass viele schon lange vor dem Überfall der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 Vorsichtsmaßnahmen trafen, um nicht auf offener Straße als Jüdin oder Jude erkannt zu werden. „Unsere Leute haben Angst. Sie trauen sich schon lange nicht mehr, mit ihrer Kippa rauszugehen. Viele haben erlebt, dass sie sonst verbal angegriffen werden.“

Es ist eine hübsche Kette, aber ich verstecke sie. Ich hätte nie gedacht, dass ich das tun müsste, aber ich habe mich daran gewöhnt.
Ältere Dame aus der Bonner Synagogengemeinde

Ihr selbst gehe es nicht anders: „Ich selbst trage zwei hebräische Buchstaben, die ich verstecke.“ Bis jetzt sprach sie schnell und souverän, jetzt wird ihre Stimme wackelig: „Es ist eine hübsche Kette, aber ich verstecke sie. Ich hätte nie gedacht, dass ich das tun müsste, aber ich habe mich daran gewöhnt.“ Vor ungefähr acht Jahren habe sie einmal von Fremden hässliche Kommentare auf Arabisch dazu anhören müssen: „Sie haben nicht damit gerechnet, dass ich sie verstehe, aber ein Teil meiner Familie waren sephardische Juden, deswegen verstehe ich einiges.“ Seit dieser Erfahrung trägt sie ihre Kette nur noch verdeckt. Um ihre Anonymität und die anderer Interviewpartner zu schützen, werden hier keine Namen genannt.

Noch einmal verliert die Stimme der älteren Dame an Stabilität, als sie etwas erzählt: „Meine Enkelin studiert in Tel Aviv. Sie sagte mir, dass sie durch das Massaker fünf Kommilitonen verloren hat.“

Ich fand es super hier, ich dachte: Hier können meine Kinder mit muslimischen Kindern befreundet sein. Darauf war ich stolz.
jüdische Mutter aus Köln

Einem Kölner Elternpaar steht der Schock über die neue Realität, in der sie sich plötzlich finden, in die Gesichter geschrieben. Kürzlich seien sie bei einem Aufenthalt in Berlin zufällig in die Nähe einer Pro-Palästina-Demonstration geraten: „Sie schrien 'Schlachtet die Juden', sagt die aus Israel stammende Mutter, die sich bewusst für ein Leben in Deutschland entschieden hatte: „Ich fand es super hier, ich dachte: Hier können meine Kinder mit muslimischen Kindern befreundet sein. Darauf war ich stolz.“ Einer der Söhne ging, zusammen mit einem muslimischen Mädchen, in eine katholische Grundschule. „Ob sie eine Kippa trugen oder einen Davidstern, das war nie ein Problem. Auf einmal ist es doch eins.“

Syrische Flüchtlinge lehnten Nachhilfe durch jüdischen Studenten ab

Sie habe sich seit Langem in der Flüchtlingshilfe engagiert, erzählt sie, und auch ihre Kinder dazu ermuntert. Ein Sohn habe in Mecklenburg-Vorpommern, wo er studiert, einem geflüchteten syrischen Jungen Nachhilfe gegeben: „Es war ein guter Kontakt, bis der Vater erfuhr, dass er Jude ist. Dann hat er ihn rausgeworfen und bei der Organisation darum gebeten, dass jemand anders zu ihm kommt. Das Schlimme ist: Sie haben ihm wirklich einfach jemand anders geschickt!“

Solche Erfahrungen hinterlassen Spuren in der Familie, in deren Alltag sich Veränderungen eingeschlichen haben. Um nicht an ihrem Akzent erkannt zu werden, meidet die Frau arabische Läden, obwohl sie dort bislang gerne einkaufte. In bestimmten Situationen spricht sie nicht mehr in der Öffentlichkeit, auf Hebräisch – eigentlich ihre Sprache mit ihren Kindern – erst recht nicht. In Köln sei die Stimmung weniger aggressiv als etwa in Berlin – aber lautes antisemitisches Geschrei haben sie auch hier auf einer Demonstration erlebt.

Wir wollen ihnen mitgeben, dass der Mensch grundsätzlich gut ist, das ist unsere Auffassung. Aber es kann nicht sein, dass die einen Menschen bedrohen und die anderen sollen ihre Kippa ablegen.
Vater einer jüdischen Familie aus Köln

Nur, wie soll man damit umgehen, wenn ein Heranwachsender nicht verstecken möchte, was er bislang offen tragen konnte? „Wir wollen nicht, dass unsere Kinder sich nicht mehr entfalten können. Wir wollen ihnen mitgeben, dass der Mensch grundsätzlich gut ist, das ist unsere Auffassung. Aber es kann nicht sein, dass die einen Menschen bedrohen und die anderen sollen ihre Kippa ablegen“, meint der Vater.

Lange hat er sich beruflich für Menschen eingesetzt, die Asyl beantragen. Jetzt hadert er damit: „Wie kann es sein, dass jetzt so viele auf antisemitischen Demonstrationen laut schreien? Wir haben sie ihn Deutschland begrüßt, aber sie greifen unseren Staat in seinen Grundfesten an. Die gesellschaftliche Mitte muss jetzt aufstehen, sonst ist unsere Demokratie in Gefahr.“ Nötig sei eine gezielte Asylpolitik, nicht Parolen von „rigoroser Abschiebung“, die rechtlich ohnehin nicht haltbar seien – etwa wenn jemand einfach seinen Pass entsorgt: „Kein Land der Welt muss irgendwen aufnehmen, dessen Identität unklar ist.“

Wachsamer auf den Straßen unterwegs

Erschreckend findet er: „Es wird einem die Illusion genommen, dass man hier mit allen friedlich zusammenleben kann.“ Man könne, das betont er, nicht alle über einen Kamm scheren. Aber manchmal mache er jetzt auf der Straße lieber einen Bogen um andere.

Auch ein älterer Mann, Mitglied im Vorstand der Deutsch-Israelischen Gesellschaft Köln, in Köln geboren und aufgewachsen, sagt: „Ich bin kein ängstlicher Mensch, aber als ich kürzlich zu einer Demonstration ging, habe ich nicht – wie ich es sonst getan habe – direkt meine Gruppe angesteuert, sondern erst einmal eine Runde gedreht, um zu schauen, ob sich nicht irgendwo etwas zusammenbraut.“ Während seiner Kindheit in der Nachkriegszeit war der Holocaust in seiner Familie präsent, aber nicht dominant: „Wir haben zum Beispiel schon darüber gesprochen, warum wir so wenige Verwandte haben, oder warum die, die es gab, in aller Welt verstreut wohnten.“

„Sogar die SS hat versucht, ihre Taten zu vertuschen. Die Hamas verbreitet die Bilder ihrer schrecklichen Verbrechen und erhält aus arabischen Ländern sogar noch Zuspruch dafür.
Vorstandsmitglied der Deutsch-Israelischen Gesellschaft Köln

Sein Großvater wurde in Theresienstadt ermordet, seine Großmutter in Auschwitz. Erst kürzlich hat er durch eine Akte Gewissheit darüber bekommen, dass sein Onkel zwar Auschwitz und den Todesmarsch überlebt habe, dann aber in Buchenwald gestorben sei. Nun verstört ihn besonders der Effekt des Bilderkrieges: „Sogar die SS hat versucht, ihre Taten zu vertuschen. Die Hamas verbreitet die Bilder ihrer schrecklichen Verbrechen und erhält aus arabischen Ländern sogar noch Zuspruch dafür.“ Und dann kippt nach einem fast zweistündigen Gespräch, in dem er über viele Gräueltaten gesprochen hat, zum ersten Mal seine Stimme, als er sagt: „Wir leben hier in einem sicheren Land.“ Aber stimmt das noch? Es ist eine Empfehlung der Gemeinde für ihre Mitglieder, draußen im öffentlichen Raum als Einzelner auf sichtbare Symbole des Judentums zu verzichten. Er hält sich daran – und ist doch zwiegespalten. „Dieser Rückzug ist eigentlich nicht richtig. Aber soll ich mir lieber den Kopf einschlagen lassen?“

Rundschau abonnieren